5.11.14/6.11.14 Istanbul – Mumbai
Die Dame am Check-In Schalter flucht kurz, als sie uns versehentlich in die Comfort Class einbucht. Wir wissen dies erst zu schätzen, als wir plötzlich in übergroßen Flugzeugsesseln lümmeln, unter den Armlehnen links und rechts stecken Bildschirm und Klapptisch, die Beine haben endlose Freiheit, die Stewardess bringt im Minutentakt Tee und Whiskey, unter anderem. Ich rufe Karime auf meinem Sitztelefon an, wir lachen uns scheckig. Mein Sitznachbar, ein Bänker aus Istanbul, schaut verzweifelt auf seinen neuen Laptop, während wir Richtung Startbahn rollen; auf dem Bildschirm blinkt ein Windowsupdate: „3%. Bitte nicht herunterfahren“. Die Stewardess guckt nervös, mir ist das plötzlich alles egal. Ich sitze in einem plüschigen Riesensessel, es gibt Whiskey auf’s Haus, ich habe ein Sitztelefon – was soll mir schon passieren? In fünfeinhalb Stunden geht es nun über Syrien, den Irak, Iran, Afghanistan und Pakistan nach Indien.
Wir wollten vorschlafen, doch gucken den dritten Film, als wir um 5:00 sanft in Mumbai aufsetzen. Vor dem Flughafen stehen Olivier, Guillaume und Gabriel aus Frankreich und Kanada, zerknautscht, planlos, kontaktfreudig. Wir teilen uns ein Taxi zum Andheri Bahnhof. Von dort geht es weiter mit dem Zug zum Chatrapathi Shivaji Terminus (CST). Die etwa 30-minütige Fahrt kostet nur 10 Rupees (Rs), also rund 13 Cent. Wir quatschen euphorisch durcheinander, albern übermüdet rum, und merken gar nicht, dass Mumbai uns bereits einsaugt.
Schon rollen wir durch Dharavi, rollen durch ein endloses Meer aus Hütten, aus Dächern mit LKW Planen, maximale Enge, Müll, Menschen: Menschen, die neben den Gleisen und vor unseren Augen den Toilettengang erledigen, weil sonst kein Platz ist in diesem endlos verschachtelten Gedränge, Kinder die knöcheltief in Plastikmüll spielen, über metallisch schimmernde Rinnsale springen und uns zuwinken. Mehr als eine Million Menschen leben hier auf 1,75 km2. Minutenlang lacht niemand mehr über 13 Cent Tickets und Drinks im Flieger. Jeder starrt stumm aus dem Fenster, starrt gedankenverloren in Mumbais, in Asiens größten Slum, ein Elendsviertel, und doch weit mehr als das, denn 60 % aller Einwohner Mumbais leben in Slums, arbeiten hier, gründen Familien hier, leben hier, sterben hier. Mumbai empfängt seine Gäste aus der Comfort Class mit einem Cocktail der Extrem-Realitäten: die Stadt mit den meisten Millionären der Welt, dem teuersten privaten Wohnhochhaus der Welt, dem größten Slum, die Stadt der fast 19 Millionen Einwohner.
Wir verstecken uns noch ein paar Stunden vor den anderen 19 Millionen im Elphinstone oder eher in einer der Wohnboxen dieses Hotels, welche wie Fächer eines großen Regals ins zweite Stockwerk eines sehr schäbigen Hauses hinter dem Bahnhof gebaut wurden. Unsere fensterlose Box riecht leicht schimmelig, sieht aber sonst recht modern aus, hat eine Klimaanlage, ein eigenes Bad. Wieder falle ich sofort in einen Tiefschlaf, während draußen die Welt schuftet.
Am späten Nachmittag wagen wir uns dann hinaus. Am Crawford Market sollen wir Gewürze und Seidenschals, Handyzubehör, Katzen oder Meerschweine kaufen, doch wir winden uns höflich durch die Hallen und lernen schnell, dass Kopfschütteln hier ‚Ja’ bedeutet. Kleine Jungs bestaunen Karimes Kamera und drängen sich eng hinter seinem Rücken. Privatsphäre wird hier offenbar nicht durch räumliche Distanz definiert, auch beim Schlangestehen an Ticketschaltern kriechen die Hintermänner und -frauen quasi in den Rücken des Anderen. Schließt man die Lücke nicht schnell genug, drängelt sich sofort jemand hinein.
Rund um den Bahnhof sehen wir nun auch die Bettler an den Straßenrändern, die Amputierten, die Verbrannten, die Drogenabhängigen, die ganz Armen, die dünnen Kinder. Das hatten wir gehört und erwartet und sie sind da, überall. Und auch sie fügen sich ein in diese übervolle Stadt, in der es alles gibt; in der jede Ecke wieder Aufmerksamkeit fordert, so dass man schnell vergisst, und die Gedanken überschreibt mit dem nächsten Eindruck. Man fragt sich, wie das alles funktioniert. Wie Menschen das aushalten. Im Müll zu leben, in absoluter Armut, in absolutem Reichtum, sich gegenseitig im Blick. So ist es natürlich auch außerhalb Indiens. Doch hier berühren sich dabei die Nasenspitzen.
Im ‚Taste of Kerala’-Restaurant essen wir am Abend ein unwahrscheinlich preiswertes Mahl, Gemüse-Curry und Biryani, Hauptgeschmacksrichtung: scharf. Die frische Abendluft tut gut. Hinter unserem Hotel haben sich derweil die Hafenarbeiter im Hof versammelt. Dies ist ihr Aufenthaltsgelände zwischen den Schichten. Von 22:00 bis 1:30 Uhr morgens ist Hochbetrieb. Eine Walze aus lautem Stimmwirrwarr und scharfen Chiligerüchen schmettert in unsere kleine Wohnbox. Ohrenstöpsel. Die beste Erfindung, seit es Indien gibt.
7.11.14
Frühstück im Badshah. Wir wollen Dosa bestellen, flache zusammengerollte Fladen, welche mit verschiedenen scharfen Soßen, Masala oder Käse gereicht werden und tippen voller Vorfreude auf die Bezeichnung in der bebilderten Karte: „Ja wir hätten gern das hier: Idli!“
Es hätten uns warnen müssen, dass der Kellner fragte, wie viele Idli wir denn möchten. Dosa sind ziemlich groß. Mit knurrendem Magen schauen wir nun auf zwei farblose, gepresste Bällchen wabbeliger Konsistenz, vielleicht aus Reis, vermutlich aus Pappe. Säuerlich schmeckend. Jeder Biss ist ein Akt reiner Höflichkeit.
Auf zum Dhobi Ghat, zum Wäscheviertel Mumbais. Auf der Brücke an der Mahalaxmi Train Station schießen wir Fotos, die es vermutlich schon millionenfach gibt. Fotos von Männern, die tausende Hemden in Steinbottichen waschen, sie anschließend kraftvoll durch die Luft schwingen und auf die Ränder schleudern, wieder eintauchen, wieder ausklopfen, Stunde um Stunde. Der Tag beginnt hier um 7:00 morgens. Als wir am Nachmittag auf der Brücke stehen, schleudern nur noch eine Handvoll Männer Wäsche durch die Luft, auf den Dächern der kleinen Hütten hängen unzählige weiße, hellblaue, gestreifte oder karierte Hemden, bunte Saris, flatternde Hosen, fein sortiert und glänzend sauber. Hier und da steht jemand in einem Bottich und wäscht sich die harte Tagesarbeit von der Haut, die Haare in einer Schaumperücke, bedeckt nur von einem Handtuch und unseren neugierigen Blicken. Als ich mir später meine gezoomten Bilder anschaue, fühle ich mich wie ein exotistischer Ethnologe alter Schule mit Safarihut und Fernglas.
Ich will wieder jeden direkt portraitierten Menschen um Erlaubnis bitten. Respekt vor Neugierde. Zudem viele indische Menschen uns sofort mit einem offenen Lächeln begegnen, wenn wir um ein Bild bitten. Im Gegenzug werden auch wir fleißig fotografiert.
Der Rest des Tages wird zum Spießroutenlauf á la „Asterix und Obelix in Rom“. Indien hat das größte Eisenbahnnetz der Welt, was ausgiebig und milliardenfach genutzt und daher extrem bürokratisch verwaltet wird. Wir wollen ein Ticket nach Udaipur kaufen und fahren zur Mumbai Central Train Station. Man schickt uns weiter zur Churchgate Station. Wieder stehen wir endlos lang an, hopsen von Schlange zu Schlange, kämpfen uns gegen die Vordrängler bis an den Schalter und werden wieder weggeschickt. Die zentrale Reservierungsstelle liegt im Mumbai Tourism Center auf der anderen Straßenseite. Anstehen. Am Schalter werden wir abermals weggeschickt. Nun sollen wir ein Formular ausfüllen. Wir haben keine Pässe bei, sondern nur Kopien. Das reicht nicht. Wir müssen Zugnummer, Abfahrtszeit, Platzpräferenz, Passnummer, Adresse in Deutschland und Indien angeben. Wer das alles nicht weiß, hat Pech. Endlich sind wir dran. Unser Zug ist ausgebucht. Wenigstens ist der Herr am Schalter sehr freundlich und es gibt eine gute Nachricht: die Touristenquote. Diese wird erst einen Tag vor Abfahrt freigegeben. Wir sollen morgen wiederkommen.
8.11.14
Punkt 9 Uhr stehen wir wieder am Ticketschalter. Leider ist unser freundlicher Herr vom Vortag weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen raunzt uns eine grimmige Dame an, was wir wöllten und wirft uns das plötzlich nutzlose Reservierungsformular entgegen. Wieder füllen wir ein neues Formular aus. Doch heute brauchen wir nicht nur die Pässe, welche wir dabei haben, sondern auch Kopien, welche ich nicht dabei habe. Mit militärischem Ton schreit sie uns kurz und knapp entgegen, dass wir bis 9:30 die Kopien bringen müssen, sonst könnten wir die Touristenquote vergessen. Karime sprintet los.
Der Saal füllt sich mit indischen Reisenden, welche aufgeregt ihre Formulare in den Schalter halten. Schlangen bestehen nur theoretisch. Um 9:25 sind Karime und Kopie zurück. Die Uhr tickt. Plötzlich werden die Reservierungsquoten freigegeben und sie hackt wild Daten mehrere Passagiere gleichzeitig in ihren PC. Mit harten Gesten winkt sie Geld in ihr Schalterfenster, tausende Rupees wechseln den Besitzer. Nun raunt sie uns zu: „Quick, quick.“ Zwei Betten im Schlafabteil kosten uns 4400 Rupees. Die 17 stündige Zugfahrt soll erträglich werden. Am Ende fehlen noch 500 Rupees extra aus der Reisekasse, die wohl im Tumult, vermutlich hinter’m Schalter mitverschwunden sind. Trotzdem feiern wir unseren ersten Kartenkauf zufrieden im Café Mondegar bei einer Tasse Chai und Pancakes.
Am Gate of India werden wir plötzlich zur Tagesattraktion indischer Touristen und Familien. Karime sieht mit seiner braunen Pluderhose, der klassischen Sonnenbrille und dem neuen Baseballcap aus wie ein Bollywoodstar und muss zig Fotos mit aufgeregten kleinen Mädchen schießen. Dafür wird er meist aus Fotos hinausgewunken, welche junge Männer mit ihrer neuen Freundin, mir, schießen wollen. Binnen kurzer Zeit bildet sich eine Menschentraube. Lokalfotografen wittern das große Geschäft und verkaufen Fotos mit uns, welche sie direkt auf ihrem mitgebrachten Drucker ausdrucken. Die ganze Situation ist ziemlich absurd und peinlich. Wir machen uns schnell aus dem Staub, ohne ein einziges Foto vom Gate of India.
Auf den Straßen Colabas sammelt uns Bharat auf. Stylischer Haarschnitt, enges Hemd, noch viel engere Hose, Ohrring und ein gewinnendes Lächeln: In den nächsten Minuten lässt Bharat seinen neuen Buddy Karime nicht mehr aus den Augen. Ich amüsiere mich prächtig und genieße meinen Chai, auf den uns unser neuer Begleiter einlädt. Bharat ist smart, spricht fließend Englisch, kommt aus Rajasthan und arbeitet offensichtlich als sogenannter Street Boy für die Textilbranche. Denn nach einigen Minuten geht es nur noch darum. Schon bietet er uns die besten Stoffe, Geschäfte, Märkte an, auf die er uns natürlich begleiten würde. Doch anders als seine Kollegen bleibt er unaufgeregt und zurückhaltend als wir dankend ablehnen, bringt uns stattdessen zum Haus der Salvation Army, wo wir uns mit Olivier verabredet haben. Bharat hat Sprachen studiert und verdient seinen Lebensunterhalt nun mit Kauf-Kommissionen, für die er Touristen von der Straße wegfängt. Wir wünschen ihm alles Gute und versprechen ihn nächstes Mal auf einen Chai einzuladen.
Am Haus der Salvation Army laufen wir dem nächsten Fänger in die Arme, einem Bollywood Agenten. Er rekrutiert uns gleich an Ort und Stelle für einen Synchronisationsjob. Was wir genau synchronisieren sollen, wird nicht erzählt, aber er brauche zwei Menschen mit amerikanischem Akzent, wir seien perfekt. Ob wir sofort mitkommen könnten, ein Shuttle würde uns jetzt zum Studio fahren, um 20:00 ginge es zurück. Wir müssten nur ein paar Zeilen aufsagen, es gäbe sagenhafte 500 Rupees. Vor ein paar Jahren protestierten mehr als 100000 indische Schauspieler auf Mumbais Straßen, da Bollywood inzwischen Nebenrollen gern für lächerliche Gehälter an willige ausländische Touristen vergibt, denen die ‚Erfahrung ihres Lebens’ eingeredet wird. Wir lehnen dankend ab. Der verzweifelte Agent bietet uns kurzerhand eine Gehaltserhöhung an, doch ehe wir in dunklen Hinterzimmerstudios merkwürdige Zeilen in uns unbekannten Filmen synchronisieren, machen wir uns wieder einmal auf und davon und riskieren eine verpasste, große Bollywoodkarriere im Tausch für einen Nachmittag auf Mumbais Straßen, für ein Cricket Game, für Kulfi Eiscrème am beliebten, aber recht schmutzigen Chowpatty Beach, für einen Plausch mit Ajit, dem Atlaskartenverkäufer aus Jaipur, der seine geliebte Heimat verließ, mit großen Hoffnungen nach Mumbai kam und noch immer keinen richtigen Job gefunden hat, für den wunderschönen Adishwarji Jain Temple und den Banganga Tank, beziehungsweise den verschmutzten Wasserspeicher, welchen wir unwissend dafür halten, in welchem Kinder planschen, Männer und Frauen Wäsche waschen, und wo ein entzückendes Mädchen lauthals und kraftvoll mit einem riesigen Holzast imaginäre Feinde vertreibt und anschließend plötzlich weniger entzückend auf die Enten am Teich einschlägt, die zum Glück schneller sind. Ein Mumbai Tag von poetischer Kraft, berauschend, erdrückend, chaotisch, gleißend, heiß, erschütternd, hoffnungsvoll, unendlich laut. Und wir, wir versuchen nicht mehr zu vergleichen, sondern nur noch zu schauen.